/ Julia Gerke
I am hunting time
Our existence –
just a brief crack of light
between two eternities of darkness.
Nothing but the same.
Two black voids.
A darkness
caused by time
separating me
from the free world of
timelessness.
This prison of time is spherical
and without exits.
No time as an exit means no self, no body.
No self, no body means no memory.
My dear friend,
nothing but loss
creates you.
Passing time
is your mother
and your biggest enemy.
Speak, Memory!
How can I keep you?
time is hunting me
Where can I find you?
blurred shapes
in the mist of time
Memory,
I want to hold you firmly,
embracing you tenderly.
I couldn’t quite tell
if it was me hunting the time
or the time hunting me.
Lost in oblivion
I wonder,
does it hurt to forget?
(sound)
Sound Julia Gerke & ⌦Julien Hübsch
Technical support: Nina Bodry
Text written by Julia Gerke
(excerpt above)
Quotes:
2:05"-2:14" inspired by Saskia Henning von Lange (2013): Alles, was draußen ist.
2:55"-3:54" Recording from the movie ⌦"Picture of Light“ (1994) by Peter Mettler.
4:08"-4:38" inspired by Vladimir Nabokov (1966): Speak, Memory. : an autobiography revisited.
¹Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Mainz 1994, S. 103.
Der Raum des Reisenden lässt sich nach den Ansätzen des französischen Anthropologen Marc Augé als „Archetypus des Nicht-Ortes“¹ beschreiben. Der Reisende erfährt den identitätslosen Ort des Transits lediglich als eine notwendige Überquerung auf dem Weg zu seinem gewünschten Ziel. Topographische Gegebenheiten werden zu verschwommenen Schlieren, die bereits hinter dem Betrachtenden liegen, noch bevor das Gehirn diese wirklich rezipieren kann. Erfahrungen des Transits auf der Fahrt zwischen Basel und Zürich machte auch die Künstlerin Julia Gerke, als ihr Blick abwesend aus dem Fenster und auf die massiven Felswände der morphologischen Strukturen der Alpen fiel. Aus einer dichten Nebelschicht heraustretende Bilder wurden zu verschwommener Erinnerung.
Die Künstlerin Julia Gerke macht Erinnerung und Zeit zum Sujet ihres Werks. So auch in ihrer ortsspezifischen Arbeit I couldn’t quite tell if it was me hunting the time or the time hunting me, welche sie 2020 im POKY – Institute of Contemporary Art installierte. Das Gefühl eines Zerrinnens der Zeit, der man nachjagt und von der man gleichsam selbst gejagt wird, macht die Künstlerin damit zum Titel ihrer Arbeit. Dieser evoziert durch die anfänglichen Worte „I couldn‘t quite tell“ auch zugleich das stete Gefühl der Unsicherheit, das auch im Versuch der Wiedergabe fadenscheiniger Erinnerungen auftritt. Da Zeit linear verläuft und dabei weder Anfang noch Ende hat, erscheint der Versuch, die Sichtbarkeit von Zeit räumlich darzustellen, zunächst als ein widersprüchliches Unterfangen. Wie also kann Vergangenheit, das bedeutet Erinnerung im Gedächtnis, konserviert und damit sichtbar und greifbar gemacht werden?
Geräusche, Gerüche oder Geschmäcker können Erinnerungen und damit Bilder im Gehirn hervorrufen – ganz im Sinne eines Proust-Effekts, bei dem der Ich-Erzähler aus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit durch den Geschmack einer in Tee getränkten Madeleine von Erinnerung heimgesucht wird, was schließlich zum Thema des Buchs wird. Das Gedächtnis ist kein generischer motorischer Mechanismus, sondern subjektives Bewusstsein, das unterschiedliche Schlüsselerlebnisse benötigt, um Erinnerungen hervorzurufen. Subjektivität bedeutet auch Singularität und damit Einzigartigkeit, da selbst gemeinsam Erlebtes zu unterschiedlichen (und auch verklärten) Erinnerungen führen kann.
Bei Julia Gerke geschieht das Sichtbarmachen von Erinnerung über eine Montage von im Raum verteilten, gattungsübergreifenden Einzelelementen, welche exemplarisch für persönliche Erinnerungen der Künstlerin stehen können sowie gleichsam auf metaphorischer Ebene zu verstehen sind. Die Einzelelemente sind dabei nicht hierarchisch voneinander abgrenzbar, sondern in einer Gleichzeitigkeit als ein gemeinsames Ganzes zu betrachten. Über eine fotografische Arbeit zeigt Gerke so beispielsweise einen entscheidenden Augenblick auf ihrer Reise, der damit symptomatisch für eine von unzähligen Erinnerungsschichten steht. Dieser exakte Moment findet seine Dopplung in der installierten Soundarbeit, welche als einzige – unter den unbelebten und zeitfernen Elementen – für das tatsächliche Voranschreiten von Zeit zu stehen scheint.
Unmittelbar vor der Fotografie, auf dem mit Teppich ausgelegten Boden, befindet sich eines von drei gefundenen Objekten – Elemente aus Beton, welche die Künstlerin als Repräsentanten des städtischen Umraums versteht. Die beiden anderen, formwiederholenden Elemente befinden sich vor der mit gewelltem Kunststoff ausgekleideten Fensterfront von POKY und bilden eine Form der Binnenraumgestaltung zwischen Außen und Innen. Die Assoziationen mit Erinnerung können auch auf metaphorischer Ebene gelesen werden – verschwommen, wie der Blick bei Nacht von außen durch die gewellte Kunststoffplatte hindurch, der sich durch das fluoreszierende, orangefarbene Neonlicht als eine verzerrte Erinnerung in unser kollektives Gedächtnis einbrennt. Im Werk der Künstlerin wird das Spiel mit Sprache demnach evident. In diesem Sinne kann Erinnerung auch als eine Spur verstanden werden, wie sie sich auf dem mit Teppich ausgelegten Boden durch die sich bewegenden Rezipient*innen einzeichnet, bis neue Spuren ältere überlagern. Sie kann auch als metaphorischer Verweis verstanden werden, wie die zwei aus massivem Aluminiumdraht gebauten Hände, welche sich der Wand nähern und diese nicht ganz berühren, als versuchen sie buchstäblich nach verschwommenen Erinnerungen zu greifen, die sie nicht zu fassen bekommen. Da Julia Gerke sichtbar macht, was sprachliche Stilmittel subjektiv evozieren, werden bildliche Sprachmetaphern dahingehend körperlich. Paradoxerweise erschafft die Künstlerin über den Weg der Sprache Dinge zum Anfassen, um Erinnerung als ein Halten und Aufrufen sichtbar und damit greifbar zu machen. Sprache wird in diesem Sinne zum Material der Arbeit.
Das POKY – Institute of Contemporary Art selbst entstand 2019 aus der Not heraus dem Mangel an Ausstellungsräumen für die Künstler*innen der Kunsthochschule Mainz entgegenzuwirken. Aus dieser Ausgangssituation heraus entwickelte sich POKY zu einem Projektraum und bildet dabei nicht nur die Versuchsstelle innerhalb eines funktionalen und nutzbaren Ausstellungsraums, sondern ist selbst gleichsam Skulptur wie Architektur. Die Gattungsgrenze, die in Julia Gerkes Arbeit durch den Einsatz hybrider Elemente überschritten wird, birgt demnach auch POKY. Es beherbergt nicht nur temporär Julia Gerkes Arbeit, sondern ist selbst Teil derselben. Zudem setzt sich nicht nur ihre Arbeit mit dem Thema Erinnerung in Verbindung, sondern auch POKY tritt als ein ephemeres Objekt hervor, das nach Ende des Projekts wieder abgebaut und damit zerstört wird. Damit wird sich auch der Ort, den POKY temporär besetzt, erneut zu einer reinen Zone des Transits – einem Nicht-Ort – einer Überquerungsmöglichkeit zu einer Dachterrasse am Ende der langen, sanft abfallenden Rampe neben dem Eingang der Kunsthochschule Mainz zurückverwandeln. Das Projekt und die ortsspezifische Arbeit Gerkes wird dann nur noch über Fotografien und damit in der Erinnerung existieren.
— Review by Stefanie Ufrecht
(info)
JULIA GERKE (*1993) lebt und arbeitet in Leipzig. Sie beschäftigt sich in ihren Texten, Skulpturen und Installationen mit Fragen der Erinnerung und Zeit. Hierbei erforscht sie, wie sich diese abstrakten Konzepte und inneren Zustände in architektonischen Räumen und Elementen widerspiegeln. Einzelne Objekte, oft in Kombination mit Text und Sound, deuten fragmentarische Szenen an, zitieren und kommentieren die uns umgebende Welt und ermöglichen subjektive Assoziationen.
In kollaborativen Projekten thematisiert sie, wie Kunst als (sozialer, architektonischer, institutioneller) Raum reproduziert werden kann. Sie ist Mitbegründerin des POKY — Institute of Contemporary Art und des Kunst- und Performancefestivals ⌦PutPutPut (2019, Mainz) und Co-Editorin des Zines ⌦chains (2019, Glasgow/Mainz).
Für ihre Ausstellung im POKY erhielt sie im Februar 2020 den Gutenberg-Lehrkolleg-Preis.
⌦ IG: @julz.lg
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/ Julia Gerke
I am hunting time
Our existence –
just a brief crack of light
between two eternities of darkness.
Nothing but the same.
Two black voids.
A darkness
caused by time
separating me
from the free world of
timelessness.
This prison of time is spherical
and without exits.
No time as an exit means no self, no body.
No self, no body means no memory.
My dear friend,
nothing but loss
creates you.
Passing time
is your mother
and your biggest enemy.
Speak, Memory!
How can I keep you?
time is hunting me
Where can I find you?
blurred shapes
in the mist of time
Memory,
I want to hold you firmly,
embracing you tenderly.
I couldn’t quite tell
if it was me hunting the time
or the time hunting me.
Lost in oblivion
I wonder,
does it hurt to forget?
(sound)
Sound Julia Gerke & ⌦ Julien Hübsch
Technical support: Nina Bodry
Text written by Julia Gerke
(excerpt above)
Quotes:
2:05"-2:14" inspired by Saskia Henning von Lange (2013): Alles, was draußen ist.
2:55"-3:54" Recording from the movie ⌦ "Picture of Light“ (1994) by Peter Mettler.
4:08"-4:38" inspired by Vladimir Nabokov (1966): Speak, Memory. : an autobiography revisited.
Der Raum des Reisenden lässt sich nach den Ansätzen des französischen Anthropologen Marc Augé als „Archetypus des Nicht-Ortes“¹ beschreiben. Der Reisende erfährt den identitätslosen Ort des Transits lediglich als eine notwendige Überquerung auf dem Weg zu seinem gewünschten Ziel. Topographische Gegebenheiten werden zu verschwommenen Schlieren, die bereits hinter dem Betrachtenden liegen, noch bevor das Gehirn diese wirklich rezipieren kann. Erfahrungen des Transits auf der Fahrt zwischen Basel und Zürich machte auch die Künstlerin Julia Gerke, als ihr Blick abwesend aus dem Fenster und auf die massiven Felswände der morphologischen Strukturen der Alpen fiel. Aus einer dichten Nebelschicht heraustretende Bilder wurden zu verschwommener Erinnerung.
Die Künstlerin Julia Gerke macht Erinnerung und Zeit zum Sujet ihres Werks. So auch in ihrer ortsspezifischen Arbeit I couldn’t quite tell if it was me hunting the time or the time hunting me, welche sie 2020 im POKY – Institute of Contemporary Art installierte. Das Gefühl eines Zerrinnens der Zeit, der man nachjagt und von der man gleichsam selbst gejagt wird, macht die Künstlerin damit zum Titel ihrer Arbeit. Dieser evoziert durch die anfänglichen Worte „I couldn‘t quite tell“ auch zugleich das stete Gefühl der Unsicherheit, das auch im Versuch der Wiedergabe fadenscheiniger Erinnerungen auftritt. Da Zeit linear verläuft und dabei weder Anfang noch Ende hat, erscheint der Versuch, die Sichtbarkeit von Zeit räumlich darzustellen, zunächst als ein widersprüchliches Unterfangen. Wie also kann Vergangenheit, das bedeutet Erinnerung im Gedächtnis, konserviert und damit sichtbar und greifbar gemacht werden?
Geräusche, Gerüche oder Geschmäcker können Erinnerungen und damit Bilder im Gehirn hervorrufen – ganz im Sinne eines Proust-Effekts, bei dem der Ich-Erzähler aus Auf der Suche nach der verlorenen Zeit durch den Geschmack einer in Tee getränkten Madeleine von Erinnerung heimgesucht wird, was schließlich zum Thema des Buchs wird. Das Gedächtnis ist kein generischer motorischer Mechanismus, sondern subjektives Bewusstsein, das unterschiedliche Schlüsselerlebnisse benötigt, um Erinnerungen hervorzurufen. Subjektivität bedeutet auch Singularität und damit Einzigartigkeit, da selbst gemeinsam Erlebtes zu unterschiedlichen (und auch verklärten) Erinnerungen führen kann.
Bei Julia Gerke geschieht das Sichtbarmachen von Erinnerung über eine Montage von im Raum verteilten, gattungsübergreifenden Einzelelementen, welche exemplarisch für persönliche Erinnerungen der Künstlerin stehen können sowie gleichsam auf metaphorischer Ebene zu verstehen sind. Die Einzelelemente sind dabei nicht hierarchisch voneinander abgrenzbar, sondern in einer Gleichzeitigkeit als ein gemeinsames Ganzes zu betrachten. Über eine fotografische Arbeit zeigt Gerke so beispielsweise einen entscheidenden Augenblick auf ihrer Reise, der damit symptomatisch für eine von unzähligen Erinnerungsschichten steht. Dieser exakte Moment findet seine Dopplung in der installierten Soundarbeit, welche als einzige – unter den unbelebten und zeitfernen Elementen – für das tatsächliche Voranschreiten von Zeit zu stehen scheint.
Unmittelbar vor der Fotografie, auf dem mit Teppich ausgelegten Boden, befindet sich eines von drei gefundenen Objekten – Elemente aus Beton, welche die Künstlerin als Repräsentanten des städtischen Umraums versteht. Die beiden anderen, formwiederholenden Elemente befinden sich vor der mit gewelltem Kunststoff ausgekleideten Fensterfront von POKY und bilden eine Form der Binnenraumgestaltung zwischen Außen und Innen. Die Assoziationen mit Erinnerung können auch auf metaphorischer Ebene gelesen werden – verschwommen, wie der Blick bei Nacht von außen durch die gewellte Kunststoffplatte hindurch, der sich durch das fluoreszierende, orangefarbene Neonlicht als eine verzerrte Erinnerung in unser kollektives Gedächtnis einbrennt. Im Werk der Künstlerin wird das Spiel mit Sprache demnach evident. In diesem Sinne kann Erinnerung auch als eine Spur verstanden werden, wie sie sich auf dem mit Teppich ausgelegten Boden durch die sich bewegenden Rezipient*innen einzeichnet, bis neue Spuren ältere überlagern. Sie kann auch als metaphorischer Verweis verstanden werden, wie die zwei aus massivem Aluminiumdraht gebauten Hände, welche sich der Wand nähern und diese nicht ganz berühren, als versuchen sie buchstäblich nach verschwommenen Erinnerungen zu greifen, die sie nicht zu fassen bekommen. Da Julia Gerke sichtbar macht, was sprachliche Stilmittel subjektiv evozieren, werden bildliche Sprachmetaphern dahingehend körperlich. Paradoxerweise erschafft die Künstlerin über den Weg der Sprache Dinge zum Anfassen, um Erinnerung als ein Halten und Aufrufen sichtbar und damit greifbar zu machen. Sprache wird in diesem Sinne zum Material der Arbeit.
Das POKY – Institute of Contemporary Art selbst entstand 2019 aus der Not heraus dem Mangel an Ausstellungsräumen für die Künstler*innen der Kunsthochschule Mainz entgegenzuwirken. Aus dieser Ausgangssituation heraus entwickelte sich POKY zu einem Projektraum und bildet dabei nicht nur die Versuchsstelle innerhalb eines funktionalen und nutzbaren Ausstellungsraums, sondern ist selbst gleichsam Skulptur wie Architektur. Die Gattungsgrenze, die in Julia Gerkes Arbeit durch den Einsatz hybrider Elemente überschritten wird, birgt demnach auch POKY. Es beherbergt nicht nur temporär Julia Gerkes Arbeit, sondern ist selbst Teil derselben. Zudem setzt sich nicht nur ihre Arbeit mit dem Thema Erinnerung in Verbindung, sondern auch POKY tritt als ein ephemeres Objekt hervor, das nach Ende des Projekts wieder abgebaut und damit zerstört wird. Damit wird sich auch der Ort, den POKY temporär besetzt, erneut zu einer reinen Zone des Transits – einem Nicht-Ort – einer Überquerungsmöglichkeit zu einer Dachterrasse am Ende der langen, sanft abfallenden Rampe neben dem Eingang der Kunsthochschule Mainz zurückverwandeln. Das Projekt und die ortsspezifische Arbeit Gerkes wird dann nur noch über Fotografien und damit in der Erinnerung existieren.
— Review by Stefanie Ufrecht
¹Marc Augé: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Mainz 1994, S. 103.
(info)
JULIA GERKE (*1993) lebt und arbeitet in Leipzig. Sie beschäftigt sich in ihren Texten, Skulpturen und Installationen mit Fragen der Erinnerung und Zeit. Hierbei erforscht sie, wie sich diese abstrakten Konzepte und inneren Zustände in architektonischen Räumen und Elementen widerspiegeln. Einzelne Objekte, oft in Kombination mit Text und Sound, deuten fragmentarische Szenen an, zitieren und kommentieren die uns umgebende Welt und ermöglichen subjektive Assoziationen.
In kollaborativen Projekten thematisiert sie, wie Kunst als (sozialer, architektonischer, institutioneller) Raum reproduziert werden kann. Sie ist Mitbegründerin des POKY — Institute of Contemporary Art und des Kunst- und Performancefestivals ⌦PutPutPut (2019, Mainz) und Co-Editorin des Zines ⌦chains (2019, Glasgow/Mainz).
Für ihre Ausstellung im POKY erhielt sie im Februar 2020 den Gutenberg-Lehrkolleg-Preis.
⌦ IG: @julz.lg
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